Liebe Forscher:innen,
ich wundere mich, dass wir im Unterricht fast nur europäische Geschichte und die Geschichte der USA anschauen. Ich würde gerne mehr vom Balkan, Afrika, Asien und Südamerika hören. Jedoch fällt dieser Teil der Welt im Unterricht weg. Ist das so, weil wir in Europa leben? Oder schrieben einfach die Kolonialisten die Geschichte ? Liebe Grüsse,
Ihre Siofra Avila
Sehr geehrte Siofra Avila,
der Lehrplan im Geschichtsunterricht ist selbst das Ergebnis von Geschichtsbildern: Was ist wichtig aus der Vergangenheit, um aus Schülerinnen gute Staatsbürgerinnen zu machen?
Schule und Geschichtsbilder des 19. Jahrhunderts
Im 19. Jahrhundert, als die Struktur der heutigen weiterführenden Schulen entstand, waren alle diese Geschichtsbilder rein christlich und vor allem national geprägt: Die Ursprünge der jeweils eigenen Staaten standen im Zentrum. In Frankreich eben alles seit den Galliern, in der Schweiz alles seit den Pfahlbauern, in Norwegen alles seit den Wikingern usw. Das wurde jeweils als die wichtigste, weil „eigene“ (und angeblich unverwechselbare und besondere) Vergangenheit angesehen – eine geträumte Rückreise in die Zeit.
Kolonien ohne eigenständige Geschichte
Dieses Konzept hat sich in allen Ländern Europas bis weit ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts gehalten. In Kolonialnationen wie England, Belgien und Frankreich kamen auch die eigenen Kolonien in Asien und Afrika vor, aber nur als Gegenstände erfolgreicher englischer oder französischer Eroberungen, nicht als eigenständige Territorien mit eigenständiger Geschichte.
Osmanisches Reich als Gegner
Nichtchristliche politische Strukturen kamen dabei nur als „Gegner“ oder Bedrohungen aus der Vergangenheit vor. Deswegen existierte in meinem eigenen Geschichtsunterricht im Wien der 1970er-Jahre die Geschichte des Osmanischen Reichs nicht, obwohl alle umliegenden Länder vom Kontakt damit nachhaltig geprägt worden waren. „Die Türken“ kamen nur als Angreifer und Belagerer von Wien 1529 und 1683 im Unterricht vor, ebenfalls als Besiegte.
Mit der Wirklichkeit von früher und der Gegenwart von damals – geprägt von massiver und erfolgreicher Einwanderung von vielen Hunderttausend Menschen aus der Türkei und den Balkanländern – hatte das nichts zu tun und sollte es auch nicht. Geschichte war die Fiktion staatlicher Eigenständigkeit. So wurde sie erzählt.
Geschichtsunterricht und Geschichtswissenschaft
Das ist aber nur möglich, wenn man all die anderen da draußen mit ihren ganz anders geprägten Geschichten – von Istanbul bis Hongkong und noch weiter – einfach weglässt. Und in der Schweiz ist das genauso. Geschichtsunterricht hat mit Geschichtswissenschaft nur sehr bedingt zu tun: Es kann immer nur ein winziger Bruchteil der eigentlich wichtigen Informationen vermittelt werden. Die Kriterien, was jeweils „unverzichtbar“ ist, wechseln eben.
Ausblick
Deswegen vermute ich, dass die Geschichte Osteuropas und Asiens in Zukunft mehr vermittelt werden wird; einfach, weil diese Länder wichtiger werden. Aber die Veränderungen im Unterricht und im offiziellen Lehrplan werden sehr, sehr lange dauern. In 20 Jahren? Historische Zeiträume eben, historisches Tempo.
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